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AVIVA-BERLIN.de im Mai 2024 - Beitrag vom 27.05.2013


Zu dem zu stehen, was man ist - ein Portrait von Iman Andrea Reimann
Vykinta Krisiukenaite-Ajami

Die in Litauen geborene Journalistin Vykinta Krisiukenaite-Ajami sprach mit der vielseitig aktiven Berliner Muslima über ihre Migration zwischen Ost und West, ihre Suche und das ...




...Sich-Finden in der Religion.

"Andersein" oder sich anders fühlen?

Iman Andrea Reimann, die Vorstandsvorsitzende des Deutschsprachigen Muslimkreises (DMK) Berlin und Leiterin der Frauengruppe in der deutschsprachigen muslimischen Gemeinde, ist hauptberuflich Leiterin der interkulturellen Kita "Regenbogen-Kidz".

Dazu engagiert sie sich aktiv im interreligiösen Dialog, ist Mama zweier Töchter und Autorin des Ratgeber-Buchs "Ramadan für dich". Ihr zweites Buch ist bereits im Entstehen und die eigene Biographie niederzuschreiben hat die vierzigährige auf die langfristige To-Do Liste der zu realisierenden Vorhaben gesetzt, "nicht unbedingt für die Veröffentlichung, sondern für einen selbst", sagt sie bescheiden, "um sich mit eigenen Fragen noch mal beschäftigen zu können, um die Erkenntnisse festzuhalten", fügt sie hinzu. Sie ist Berlinerin und Muslima. Mit den AVIVA-LeserInnen teilt sie ihre Geschichte, in der sowohl ihre Stadt Berlin als auch ihr Glaube eine große Rolle spielen. Und ihre Erfahrungen, die sie irgendwann im Schatten ihrer eigenen Geschichte gesammelt hat, die irgendwann im Lichte derer zu wertvollen Erkenntnissen wurden.

"Ich bin 1973 in der DDR geboren, in Potsdam und aufgewachsen in Ost-Berlin, in Mitte, im Scheunenviertel, in der Nähe der großen Synagoge in der Oranienburger Straße. Mit sechs Jahren sind meine Mutter und ich nach Westdeutschland ausgereist und haben dort drei Jahre gelebt. In einem kleinen Ort bei Gütersloh. Für mich als Kind war das eine schöne Zeit, da wir sehr landschaftlich gelebt haben. 1982 sind wir zurück nach West Berlin gezogen und da habe ich genau am Kottbusser Damm gewohnt", legt mir Iman Andrea Reimann ihre Biographie in kürzester Form offen.


Vier Jahre alt

Die eigene Biografie ist ein erzähltes Leben. Die Fakten vom Geburts- und Wohnort, von der Umgebung und davon, von wann bis wann man was tat, prägen sich in unsere Lebensläufe rein. Diese Fakten werden zu unserem Hab und Gut und tragen zu dem bei, was aus uns geworden ist. Und auch ein Stück dazu, was aus uns wird.

Wir setzen uns in ein Café im Charlottenburg. An diesem verschneiten Winternachmittag, zwischen Arbeit, Kindern und zig anderen Aktivitäten. Vor mir sitzt Iman, so wie ich sie schon über Jahre kenne - stets bedacht, fröhlich, zielstrebig. Sie ist eine der ersten deutschen MuslimInnen, die ich in Berlin kennenlernte. Deutsch und Muslima. Damals war es für mich ein Gegensatz in sich. Längst ist das für mich kein Gegensatz mehr. Aber für viele sicherlich noch immer.

Mit sechs Jahren ist Iman Andrea Reimann das erste Mal umgezogen. Von Ost-Berlin nach Westdeutschland. Mit neun der zweite Umzug zurück nach Berlin. Nach Kreuzberg ging es damals. Aber was ist denn schon ein Umzug von Ost nach West und wieder nach Berlin zurück, wenn man im Herzen stets zwischen den Welten "migriert" – zwischen Alltag und Spiritualität? Mit 21 ist Iman Andrea Reimann zum Islam konvertiert. Migriert sie wirklich zwischen den Welten oder ist sie dadurch genau in ihrer Welt angekommen? Das Anderssein ist womöglich das Sich-selbst-sein. Nicht nur sein, sondern auch dazu stehen. Zu seinem Anders-Sein. Und zu sich selbst.

Iman Andrea Reimann: "Ich habe sehr früh gemerkt, dass ich immer ein Gegensatz zu dem war, was an einem Ort vorgeherrscht hat: Im Osten war ich Christin, wir waren als Christen "die Anderen" in einem sozialistischen Staat. Mit diesem Bewusstsein bin ich auch aufgewachsen, dass wir nie konform gehen könnten. Schon in der Schule, wo die anderen sich für die Pioniere anmeldeten, war es für uns klar, dass das nicht zu uns gehört und dass wir das nicht machen.

Als ich in Westdeutschland war, habe ich auch ziemlich schnell gemerkt, dass ich als Ost-Berlinerin dort anders war. Mit meiner allein erziehenden Mutter, dann war ich "die aus dem Osten mit ´komischer Kleidung´", die anderen sprachen "vernünftiges" Deutsch. Da galt es auch erst mal, sich eine Position zu verschaffen. Und da habe ich mir auch gedacht, ich kann auch aus dem Osten kommen und stolz darauf sein. Ich habe als Kind schnell gelernt: man steht zu dem, was man ist.

Zurück in Berlin war es wieder anders, ich musste mich wieder rein finden. Kreuzberg stand damals für Chaos, Anarchie und Probleme. Wo ich wiederum Position bezogen habe: dass man nicht automatisch schlecht ist, wenn man aus einem "schlechten" Bezirk kommt."


Vykinta Krisiukenaite-Ajami: Die Jugend und die ersten jungen Lebenserfahrungen sind so wertvoll und wichtig für das Heranwachsen und das Formen des weiteren Lebens. Ich versuche, in den Jugenderinnerungen nach den ersten Berührungen mit dem Islam, der Religion, für die sie sich entschieden hat und die sie schon seit 19 Jahren praktiziert, zu suchen.

Iman Andrea Reimann: "Ich hatte Klassenfreundinnen, die muslimisch waren. Wir besuchten einander und durch Erzählungen hatte ich von Dingen wie dem Fasten im Ramadan erfahren. Es gab mal einen Fall, dass die Mädchen aus dem Türkeiurlaub mit einem Kopftuch zurückgekommen sind. Ich hatte bei meinen Freundinnen solche Prozesse miterlebt. Mit der Pubertät hat sich durch das Kopftuch plötzlich bei ihnen alles verändert. Kurz davor waren sie noch tobende Kinder und plötzlich waren sie schon junge Frauen. Ich habe beobachtet, dass muslimische Jugendliche entweder gar nicht nach den von ihren Eltern und Familien vorgegebenen Regeln leben oder sich eigene Regeln schaffen, die wenig bis gar nichts mit der Religion zu tun haben, sondern vielmehr mit Traditionen und familiären Strukturen."


Neun Jahre alt

"Zum Beispiel kann ich mich noch an einen Jungen erinnern, der gebetet und gefastet hat, und viel Druck auf seine Schwester ausgeübt hat, sie solle doch das Kopftuch tragen, was sie gar nicht tun wollte. Sie hatte damals eine ganz andere Sicht der Dinge, wollte studieren, und das hat sie sehr unglücklich gemacht. Sie wollte gewisse Selbstbestimmungsrechte haben, tun und lassen was sie selbst möchte. Ich habe das damals schon als sehr ungerecht empfunden und mir die Frage gestellt, kann man durch Druck denn etwas erreichen?
Das waren meine Beobachtungen damals als Jugendliche, die vorübergezogen sind und nicht weiter von mir verfolgt wurden, denn das waren Themen, damals noch weit weg von dem persönlichen Interesse."


Vykinta Krisiukenaite-Ajami: Seit den ersten eher negativen Erfahrungen mit Muslimen sind mittlerweile ein paar Jahrzehnte vergangen. Und nun sitzt vor mir eine überzeugte, glückliche Muslima, die ihre Überzeugung schon viele Jahre mit ihrem Leben bezeugt. Der innerliche "Umzug" war wohl keine vorübergehende Gesinnung, kein vorbeiziehender Wind, keine schnell verblasste Begeisterung, sondern verantwortungsvolle Verinnerlichung des Glaubens. Ich möchte wissen, wie es dazu kam.

Iman Andrea Reimann: "Jahre später kam ich zur Erkenntnis, dass Gott für uns etwas vorbestimmt hat, das Leben ist nach Ihm auszurichten. Die gottesdienstlichen Handlungen haben eine ganz bestimmte Funktion zu erfüllen, und das nicht äußerlich und bedeutungslos, sondern mit Sinn und Zweck. Das Beten ist nicht nur das Verbeugen und das Niederknien, sondern soll mit mir etwas machen.
Den Bezug zu Gott hatte ich schon als Kind gehabt. Auch als Kind kann man zu Gott finden. Im jugendlichen Alter geht der Bezug zu Gott leicht verloren, die festen Rituale helfen dabei, das zu bewahren. Ich meine nicht die Rituale, die ich erlebt habe. Sie haben mit der Religion nichts zu tun, sie haben mit Macht und Machtausübung zu tun. Ich glaube auch, dass Menschen Macht haben wollen. Aber wir Muslime dürfen nicht vergessen, dass wir alle früher oder später Rechenschaft vor Allah ablegen werden. Und da ist Verantwortung gefragt.
Zum Islam bin ich durch den Tod meiner Großvaters gekommen. In einer Buchhandlung habe ich ein Buch gekauft, das sich mit dem Tod und Sterben im Islam beschäftigt. Da habe ich unter anderem gelesen, dass der Mensch im Grab befragt wird, nach seinem Gott. Da habe ich mir gesagt, dass ich diese Fragen beantworten möchte."


Vykinta Krisiukenaite-Ajami: Menschen und ihre Unterschiede, durch die das Zwischenmenschliche zum komplizierten Labyrinth werden kann. Als Leiterin des Deutschsprachigen Muslimkreises und einer Frauengruppe der Gemeinde hat Iman Andrea Reimann zahlreiche Erfahrungen im Umgang mit den Menschen in einer Gemeinschaft gesammelt. Wie es um die Unterschiede innerhalb einer Gemeinschaft steht, frage ich sie.>

Iman Andrea Reimann: "Als "Menge" sind wir in Anführungszeichen gleich. Aber dadurch, dass wir uns aus Individuen zusammensetzen, sind wir sehr unterschiedlich. Es ist eine große Anstrengung, in einer Gruppe für sich zu sein, aber auch den Gemeinschaftsaspekt nicht aus den Augen zu verlieren. Es erfordert Kraft und Anstrengung, herauszuhören, was jeder Mensch in einer Gemeinschaft gerade braucht. Manchmal gelingt es, und manchmal merke ich es auch an mir, dass ich es heute nicht geschafft habe. Auch in einer Gemeinde gibt es verschiedene Perspektiven. Jemand, der sich zum Beispiel viel für die Gemeinschaft einsetzt, braucht auch Lob, er oder sie braucht es, zu hören "hast du super gemacht", jemand anders hingegen ist als Gast da und braucht eine ganz andere Kommunikation. Und das ist nicht einfach, mit den Anforderungen der Menschen zu tun zu haben. Wiederum lerne ich auch, Anforderungen erstmal an sich selbst zu stellen und erst dann an Andere.

Eine Gemeinde kann nicht gut voran kommen, wenn alle regelmäßig nicht da sind, wenn sich nicht jeder dafür verantwortlich fühlt. Man kann sich Fragen danach stellen, wie bewusst man dabei ist. Habe ich eine Verantwortung dafür, dass bestimmte Dinge in der Gemeinde funktionieren, dass zum Beispiel die Küche aufgeräumt ist. Wir sind als Gemeinde füreinander da, für große und für kleine Dinge, und auch dafür, einander auf gute Weise daran zu erinnern, an sich zu arbeiten."


Vykinta Krisiukenaite-Ajami: Iman Andrea Reimann ist Leiterin eines interkulturellen Kindergartens. Die Gemeindearbeit mit den Erwachsenen gibt ein gesundes Gegengewicht zu der Arbeit mit Kindern. Meine Gesprächspartnerin ist genau die richtige Person, die sagen kann, mit wem zu arbeiten es leichter ist. Ist der Umgang mit uns, Erwachsenen, oder unseren kleinen Sprösslingen leichter?

Iman Andrea Reimann: "Mit Erwachsenen muss man natürlich viel mehr abwägen. Wie verhalte ich mich, was fordere ich. Kinder sind viel einfacher: Oh, Tante Iman, das was du machst, machen wir auch, super! Der Widerstand ist viel geringer, man kann sie viel leichter begeistern. Bei den Kindern ist vielmehr die Beziehungsebene maßgebend, wenn man die Kinder für sich gewonnen hat, ist es viel einfacher, mit ihnen Sachen zu machen. Sie sind nicht so festgelegt, genau das oder jenes zu machen, damit sie zufrieden sind. Sie verzeihen viel leichter, wenn man ungerecht war, sie sind nicht nachtragend. Bei Erwachsenen muss man viel mehr aufpassen. Mit Leuten, mit denen man eng zusammen ist, mit denen man schon viel gemacht hat, kann man einfacher sagen, hey, sorry, heute bin ich nicht gut drauf, sie können die kleinen Vergehen natürlich auch leichter verstehen und verzeihen als Menschen, mit denen man weniger und seltener zu tun hat und sich vielleicht noch nicht so gut kennt. Bei den Kindern sind es eher Momentaufnahmen, die kleinen Freuden, wenn sie plötzlich was können, wenn sie was tolles gelernt haben, wenn sie auf einmal zwei Dinge verknüpfen können. Im Umgang mit den Erwachsenen haben wir mehr mit der Ganzheit zu tun, man begleitet einander im Leben ganzheitlicher."

Vykinta Krisiukenaite-Ajami: Iman Andrea Reimann engagiert sich aktiv im interreligiösen Dialog zwischen Muslimen und Andersgläubigen. Dieses Thema ist zu unserer Zeit höchst aktuell. Wie wird das wohl dann aussehen, wenn die heutigen Kindergartenkinder erwachsene Menschen sind? Wird die Gesellschaft dann immer noch einen interreligiösen Dialog so dringend benötigen wie heute, oder wird die Vielfalt viel selbstverständlicher sein. Ich frage Iman, was die wichtigsten Dinge sind, die sie mit ihrem Team den Erwachsenen von morgen heute schon mitgeben kann.

Iman Andrea Reimann: "Zu dem zu stehen, was man ist, sich seiner Identität bewusst zu machen. Zu verinnerlichen, dass die eigene Identität nicht damit zusammenhängt, wie viel Geld man hat, dass wir so sind wie wir sind und so sind wir in Ordnung, dass wir uns nicht mit anderen vergleichen, um zu bestehen. Die muslimischen Kinder versuchen wir in ihrer Identität als muslimische Berliner zu unterstützen, so dass sie sich hier zu Hause fühlen. Sie sind hier geboren, sie kennen sich hier aus und sollen sich hier nicht fremd fühlen. Auch als Kind ist es wichtig, zu wissen, was man möchte. Was mir und uns noch sehr wichtig ist, ist, soziale Kompetenzen zu fördern. Und wir freuen uns immer wieder, von den Lehrern zu hören, dass unsere Kinder teamfähig in die Schule kommen, selbstbewusst und mit vielen anderen wichtigen sozialen Kompetenzen. Dass sie sich äußern können, wenn ihnen was nicht gefällt, aber auch das Bewusstsein haben, der Umgebung etwas geben zu können, dass sie einen gesunden Ehrgeiz haben. Das versuchen wir dadurch zu fördern, indem wir ein Kind als Individuum sehen und es in seinen individuellen Fähigkeiten stärken und fördern. Es ist sehr wichtig, in die Kinder reinzuhören, ihnen zuzuhören. Manchmal haben Kinder auch schwere Phasen, die sie durchlaufen müssen, und wir als Erwachsene müssen auch mit ihnen da durch. Nur weil ich es schneller haben möchte, ist es ungerecht, das Kind in seinen Emotionen und seiner Entwicklung zu bremsen.
Die Kinder müssen natürlich auch lernen, dass sie manchmal auch Dinge machen müssen, auf die sie gerade keine Lust haben. Und das ist der Kern des Sozialen, im Leben miteinander, mit seinem Umfeld selbstbestimmt, selbstbewusst und situationsentsprechend umgehen zu können."



Iman Andrea Reimann 2012

Vykinta Krisiukenaite-Ajami: Und was wäre wohl das Wichtigste, was meine Gesprächspartnerin am liebsten ihren eigenen Töchtern weitergeben würde?

Iman Andrea Reimann: "Manchmal Zähne zusammenbeißen und durch! Dass man sich nicht zankt, dass man immer wieder zusammenkommt, dass man nicht tagelang aufeinander böse oder voneinander traurig ist, dass man sich irgendwann umarmt und alles abgehakt ist. Dass man manchmal Dinge machen muss, weil sie erforderlich sind, auch wenn man keine Lust dazu hat. Dass man seine Familie sehr ernst nimmt. Ich achte sehr darauf, dass meine Töchter ihren Großeltern, Onkeln und Tanten schreiben. Dass es zu Gewohnheit wird, an die Familie im Leben zu denken. Und ich möchte ihnen die Hadj – die große Pilgerfahrt - ermöglichen, ich möchte ihnen zeigen, guckt mal, das, worüber wir sprechen, ist alles wahr, die Kaaba steht dort, Ibrahim aleihi salam – Friede sei mit ihm - hat die Hadj hier installiert, und ich möchte ihnen am Anfang ihres jungen Lebens das ermöglichen, das alles dort zu sehen und zu erleben."

Vykinta Krisiukenaite-Ajami: Indem Iman Andrea Reimann mir über ihre Hobbys erzählt, von der breiten Palette der Genres der Bücher, die sie liest, von den Musikrichtungen, die von klassischer bis zur islamischer Musik reichen, von den Freiräumen, die sie sich zwischen Aktivitäten, Arbeit und Familie für´s Kino und andere angenehme Dinge des Lebens schafft, drängt sich zum wiederholten Mal der Gedanke vom Gegensatz. Ich möchte wissen, was ihr die Gegensatz in ihrem Leben jetzt, viele Jahre nach den ersten Migrationserfahrungen und der Konvertierung zum Islam, bedeutet. Wie sie sich als eine deutsche Muslima in Berlin fühlt. Anders? Immer noch anders? Nicht mehr anders? Oder womöglich gar nicht?

Iman Andrea Reimann: "Im Moment fühle ich mich sehr gut. Ich habe mich sozusagen entgrenzt. Einige Zeit lang habe ich mich von der Außenwelt abgegrenzt gefühlt, weil ich sehr oft die Gegenhaltung erfahren habe: Du gehörst nicht zu uns, da du anders bist, anders aussiehst. Ich bin hier aber mehr als vertraut, ich wurde hier geboren, ich kenne die Sprache und nur weil ich einen anderen Kleidungsstil habe, weil ich ein Kopftuch trage, disqualifiziert mich das noch längst nicht als Mitglied dieser Gesellschaft. Das sind die Erfahrungen, die ich auf meinen Weg gesammelt habe. Ich habe mich sozusagen entgrenzt, indem ich mich nicht mit dem Gedanken in der Gesellschaft bewege, oh, wie werden mich die anderen wahrnehmen? Ich bin wie ich bin. Und ich habe keine Lust, mich dauernd damit zu beschäftigen, wie jemand mich angeguckt oder angesprochen hat. Es ist wichtig, für sich die Normalität zu finden, zu sein wie man ist und was man als Muslim macht. Wenn ich beten muss, wenn ich unterwegs bin, dann muss ich mich nicht verstecken, sondern für mich einen ruhigen Ort, wo ich von niemandem gestört werde und mich niemand stört, finden. Wenn man die Normalität für sich verinnerlicht hat, dann kann man die Normalität von den anderen auch besser einfordern. Ich kann doch ganz normal fragen, ob ich hier mein Gebet verrichten darf, statt mich irgendwo zu verstecken. Menschen schätzen Ehrlichkeit und sind dann meistens auch zuvorkommend. Sie müssen sich nicht mit unseren Belangen beschäftigen, sondern wir sind das, die das tun sollten. Das gehört zu meiner Normalität und mit ihr gehe ich in die Öffentlichkeit und ich fühle mich gut damit. Ab dem Moment bin nicht mehr ich, die sich damit auseinander setzen muss, wie das ankommt. Wie jemand anders das findet, kann jeder für sich entscheiden.


Vykinta Krisiukenaite-Ajami

1978 in Litauen geboren, hat an der Universität Klaipeda (Litauen) und an der Freien Universität Berlin Germanistik, Linguistik und Arabistik studiert. Schreibt als freie Journalistin und Auslandskorrespondentin für verschiedene Medien und engagiert sich für interkulturellen Dialog, Antidiskriminierung und Antirassismus. In ihrem Roman "Liman" beschäftigt sich die Autorin mit sozialer und spiritueller Thematik. In ihrer Kolumne "MiGraciaHintergrund" (migazin.de) setzt sie sich mit Zuschreibung von Identitäten und anderen Themen rund um Migration und Integration auseinander. Lebt mit ihrem Mann und Kindern in Berlin.




Weiterlesen unter:

"Liman" von Vykinta Ajami auf den Seiten des Narrabila Verlags

Beitrag Krisiukenaite-Ajamis im Migazin "Migrationshintergrund ist kein Vordergrund", 14. Juli 2011

Beitrag Krisiukenaite-Ajamis im Migazin "Zum Holocaust Gedenktag. Der eigene Schatten, Kollektive Feindbilder und die rechte Gewalt", 27. Januar 2012

Beitrag Krisiukenaite-Ajamis im Migazin "Verdeutscht und überdeutscht gedeutscht", 21. Februar 2013



© Foto von Iman Andrea Reimann: Vykinta Krisiukenaite-Ajami
© Fotos von Iman Andrea Reimann: Iman Andrea Reimann
© Foto von Vykinta Krisiukenaite-Ajami: Sharon Adler





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Women + Work

Beitrag vom 27.05.2013

AVIVA-Redaktion